Auf einem 3375 m2 großen Grundstück an der Hauptstraße 24 in Ortenberg wurde von Januar bis Mitte Oktober 2022 eine Rettungsgrabung durchgeführt. Literarische Hinweise deuteten darauf hin, dass dieses Grundstück die Überreste eines Kanzleihofs aus dem 16. Jahrhundert enthielt. Zu Beginn der Ausgrabung war allerdings nicht abzusehen, dass unter einer mächtigen Schwemmschicht noch ältere Siedlungsreste erhalten waren.
Die Bebauung des Geländes an der Überlandstraße setzte im 15. Jahrhundert ein. Am Nordrand der Grabungsfläche fanden sich mindestens sechs Hauskeller bzw. Gruben, zum Teil mit Ausmauerung.
Die Verfüllung der Kellergruben zeichnete sich durch ein extrem hohes Fundaufkommen aus: Neben großen Mengen an Keramik, vorwiegend rot gebrannte Irdenware, wurden viele Glasfunde des frühen 16. Jahrhunderts geborgen. Das Formenspektrum umfasst formgeblasene Becher, Kutrolfe und Nuppengläser, darunter ein vollständig erhaltener Krautstrunk (ein Glas mit großen Noppen, siehe Bildergalerie).
Die ältesten Baubefunde waren von einer teilweise über 50 cm mächtigen Schicht aus eingeschwemmtem Auelehm überlagert. Sie wurden offenbar infolge eines oder mehrerer Hochwasser zerstört und nicht wieder aufgebaut. Im Kinzigtal sind in der Mitte des 16. Jahrhunderts mehrfach Hochwasserereignisse urkundlich überliefert.
Bei unserer Fundstelle kommt noch hinzu, dass sie im Bereich der Erosionsrinne vom Freudentaler Eck zwischen Hohem Horn und Keugeleskopf liegt. Von dort konnte das aufgrund des vorherrschenden Weinbaus entwaldete Gelände von Osten in Richtung Kinzigtal abgeschwemmt werden. Durch dieses Zusammenwirken von Hochwasser und Erosion sind die mächtigen Überlagerungen erklärbar.
Im Süden ist der Grundriss eines 14m langen und 9 m breiten Hauses erkennbar (Abb. 289, 2). In seiner Fundamentlage waren außergewöhnlich große Granitsteine verbaut. Der östliche Gebäudeteil war unter- kellert, der 40 m2 große, nur etwas über 1 m eingetiefte Raum wies Reste eines Kieselpflasters auf. In der näheren Umgebung des Hauses fanden sich zahlreiche Fingerhüte aus einer Kupferlegierung, Kreidesteine und Bronzenadeln, die man auf die zwischen 1539 und 1559 dort betriebene Schneiderwerkstatt zurückführen kann, die bisher nur literarisch nachweisbar war.
Mit den am Fuße der markanten Ortenberger Burg dokumentierten Bauresten konnte mit der Ausgrabung auf archäologischem Weg der Nachweis für das hier bislang nur auf der Grundlage von Schriftquellen vermutete Kanzleigebäude erbracht werden. Es wurde ab 1559 in mehreren Um- und Ausbauphasen errichtet und war Sitz der frühneuzeitlichen Landvogtei Ortenau. Zunächst als landwirtschaftlicher Betrieb geplant, diente es später zur Verwaltung und Ablieferung von Abgaben. Nach der Verlagerung der Verwaltung nach Offenburg wurde die Einrichtung 1689 aufgegeben.
Die erfassten baulichen Reste des Kanzleihofs fanden sich unmittelbar an der ehemaligen Landstraße. Die Baugeschichte des mehrfach umgebauten Komplexes ist noch nicht abschließend geklärt. Der älteste, 1559 errichtete, 10 m lange und mindestens 7 m breite Gebäudetrakt lag an der Straße und ist im nördlichen Bereich teilunterkellert.
Der hofseitige Anbau wurde offenbar erst nach den Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg ab 1648 errichtet. In der Südhälfte des 13 m langen und 8 m breiten Anbaus lag ein überwölbter Keller, vermutlich mit Plattenboden. Dieser hatte im Süden einen 2,2m breiten Zugang vom Hof her. Ein weiterer Zugang führte über eine 1m breite Treppe mit drei Stufen in den Kernbau. Zwischen beiden Treppen war auf Laufniveau ein etwa 30cm hoher Topf mit Innenglasur ohne Rand eingelassen, der mit großer Wahrscheinlichkeit als Mausefalle diente.
An der Nordwestecke des Anbaus lag ein Rundturm von 4 m Durchmesser für eine Wendeltreppe, über die das Obergeschoss erschlossen wurde. Im Norden der Ostwand des Anbaus war eine im Lichten 1,5 m × 2,2 m große, gemauerte Latrine mit einem Fassungsvermögen von ca. 8 m3 angefügt. An der Basis ihrer Verfüllung fanden sich umfangreiche botanische Reste, darunter die Samen und Kerne zahlreicher Kulturpflanzen wie Trauben und Kirschen, aber auch Kürbis, der im 17. Jahrhundert in Mitteleuropa neu eingeführt worden war.
Am Nordrand des Gehöfts lag das 20 m lange und mindestens 11 m breite Werkhaus. Darin barg man viele Eisenfunde, darunter landwirtschaftliches Gerät.
An der südwestlichen Ecke schloss eine große beckenförmige Vertiefung an, die Bretter, Staken und Lagen von Zweigen (darunter Rebschnitt) enthielt. Eine 12,5 m × 6,5 m große Scheune oder Remise schloss den Hof nach Osten ab.
Ein Brunnen am Südrand des Gehöfts sicherte schließlich die Wasserversorgung des Kanzleihofs.
„Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2022“, S. 326-330, Dr. Bertram Jenisch, Stv. FB-Leiter Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit vom Landesamt für Denkmalpflege, Dr. Lucie Siftar und Dr. Andreas Hanöffner vom Archäologischen Baustellenservice in Süddeutschland.
Franz X. Vollmer, Ortenberg. "Schritte zurück in die Vergangenheit eines Ortenaudorfes" (Ortenberg 1986); ders., "Die Häuser von Ortenberg, (1500–) 1700–1945" (Ortenberg 1995) 56–61.
Bilder von Roger Lindner, Museums- und Geschichtsverein Ortenberg e.V.